4. Station: Kreuz Männerreih (Rüttersweg/in der Nähe der Klosterstraße) (GoogleMaps)
Melwins Stern
Melwin war ein Engel. Kein besonders bedeutender Engel. Er saß nicht zur rechten Hand Gottes. Wenn alle Engel sich versammelten und sich niedersetzten, um Gottes Weisheit zu vernehmen, blieb Melwin im Hintergrund stehen. Melwin stand da, mit Eimer und Besen, und wartete. Und wenn er irgendwo ein Stäubchen entdeckte, rannte er gleich hin und kehrte es in seinen Eimer. Das war keine besonders große Aufgabe, wirklich nicht. Engel sind schrecklich sauber. In tausend Jahren konnte es vorkommen, dass einmal eine kleine Feder von irgendwoher herabschwebte. Aber Melwin war sofort zur Stelle und kehrte sie auf. Er wäre ja eigentlich lieber Wolkenwäscher gewesen. Oder doch noch lieber Sternputzer. Jedes Mal, wenn am himmlischen Anschlagbrett eine freie Stelle angezeigt wurde, war Melwin als Erster da. Aber wenn er dann den Wolkenschrubber nehmen und die Wolke abschrubben sollte, war das Ding so groß, dass Melwin selbst unter die Borsten geriet und geschrubbt wurde. Und auch die Putztücher der Sternputzer konnte Melwin kaum hochheben. Wenn es ihm einmal gelang, dann blähte sich das Riesentuch auf und hüllte ihn in seine großen, weichen Falten, sodass er überhaupt nicht mehr zu sehen war.
Aber Melwin gab nicht auf. Und eines schönen Tages – wer hätte das gedacht – war er nicht nur als Erster da, um sich zu bewerben. Er war sogar der Einzige. „Was denn, bin ich zu früh?“, fragte Melwin den Engel vom Dienst. Der Engel vom Dienst sah gar nicht von dem großen Hauptbuch auf, sondern schrieb weiter, Zeile um Zeile. „Nein“, sagte er. „Oder bin ich zu spät?“, fragte Melwin. Der Engel vom Dienst malte den Querstrich des Buchstabens T und setzte einen Punkt auf das i. „Du bist rechtzeitig gekommen.“ Er hielt Melwin ein Putztuch hin. „Geh zehn Millionen Meilen in westlicher Richtung und dann einen Schritt nach links. Da findest du den Stern, dem du zugeteilt worden bist.“ Melwin traute seinen Ohren kaum. Er war Sternputzer geworden. Und seinen Augen wollte er auch nicht trauen: Das Putztuch hatte genau die richtige Größe für seine Hände. „Es ist nur ein sehr kleiner Stern“, sagte der Engel vom Dienst. „Willst du die Arbeit übernehmen?“ „Oh ja, natürlich!“, rief Melwin. „Gut. Alle anderen haben nämlich abgelehnt.“
Es war auch wirklich kein Stern, mit dem man als Sternputzer viel Aufsehen erregen konnte. Er war schon sehr, sehr klein und glänzte nur matt. Aber er war alles, was Melwin sich je gewünscht hatte. Er putzte seinen Stern morgens und nachmittags. Und spät abends, wenn die anderen Sternputzer ihre Poliertücher schon weggelegt hatten, wischte und rieb Melwin immer noch weiter. Wenn er dann schließlich nach Hause gehen wollte, konnte er sich kaum losreißen. Immer wieder kam er zurück und wischte noch mal mit dem Ärmel über den Stern. Und ganz allmählich, nach und nach, viele Tage, viele Jahre, vielleicht sogar zweitausend Jahre später, fing Melwins glanzloser Stern an zu glänzen. Der Himmelstrich, wo er stand, war früher finster und unheildrohend gewesen. Nun wurde er heller und freundlicher.
Melwin war bei seiner Arbeit so froh, dass die Zeit verging wie im Fluge. Und er hätte auch bestimmt nichts von dem großen Wettbewerb erfahren, wenn sein Freund Gamaliel ihn nicht besucht hätte. Aber Gamaliel kam zu Besuch und als er sah, wie Melwins Stern glänzte und funkelte, sagte er: „Du solltest dich mit deinem Stern an dem großen Stern-Wettbewerb beteiligen, Melwin.“ Melwin sah sich nach seinem Stern um. „Er ist sehr klein für einen Wettbewerb.“ „Von groß oder klein war nicht die Rede“, sagte Gamaliel. „Du hast da einen sehr schönen, strahlenden Stern, Melwin.“ „Das stimmt“, sagte Melwin.
Diesmal war Melwin aber nicht der Erste in der Reihe. Nein, er war der Aller – Allerletzte. Vor ihm standen die großen Sternputzer – Engel, einer immer noch größer und mächtiger als der andere. Und jeder trug einen riesengroßen, leuchtenden Stern. Gamaliel stieß Melwin mit dem Ellenbogen an. „Vielleicht hätten wir doch nicht kommen sollen“, flüsterte er. „Größe allein macht´s nicht“, sagte Melwin und rieb noch einmal über seinen Stern. Die lange Reihe der Sternputzer rückte langsam vor und zog an Gottes Thron vorbei. Und bei jedem der großartigen, glitzernden Sterne, die ihm vorbeigeführt wurden, schüttelte der Herrgott den Kopf. „Nein, nein“, sagte er. „Das ist nicht der richtige für einen Geburtstag.“ Schließlich war nur noch Melwin übrig. Aber gerade in dem Augenblick, als Melwin mit seinem Stern vor dem Herrgott treten sollte, erscholl ein Trompetenstoß. Der Himmel erzitterte und die Engel erhoben mutlos die Hände. Der Erzengel Gabriel war gekommen, um sich mit einem Stern an dem Wettbewerb zu beteiligen. Und der Erzengel Gabriel gewann jeden Wettbewerb. Mit seiner großen, goldenen Trompete in der rechten Hand und dem prachtvollen Stern in der linken schritt Gabriel durch die Reihen der Engel. Er hielt Gott seinen Stern hin und der Stern blitzte und funkelte in allen Farben, die es je gegeben hatte und die es je geben würde. Dann trat Gabriel zurück und wartete darauf, zum Sieger ausgerufen zu werden. Aber der Herrgott, der alles sieht, sah Melwin dastehen und warten. „Der Wettbewerb ist noch nicht abgeschlossen“, sagte er. „Komm, Melwin. Zeig mir deinen Stern.“ Melwin trat vor und hielt seinen Stern hoch. Der Herrgott sah zu dem Stern herab, der ruhig und freundlich strahlte, und er nickte ein paar Mal und lächelte. „Du hast es verstanden, Melwin“, sagte der Herrgott. „Das ist der richtige Stern.“ Alle Engel im Himmel jubelten und Gabriel ließ seine goldene Trompete erschallen.
„Komm mit mir, Melwin“, sagte der Herrgott. Melwin fasste seinen Stern fester und lief hinter dem Herrgott her, der quer durch den Himmel schritt. Ab und zu sah der Herrgott sich um und betrachtete Melwins Stern und sein warmes, freundliches Licht. „Doch, der wird ihm gefallen“, sagte der Herrgott und blieb vor einem dunklen, weiten Wolkenloch stehen. „Stell ihn hierher, Melwin. Ja so. Genauso so.“ „Wie gut er dahin passt“, sagte der Herrgott. „Sein Licht macht alles froh, was er bescheint. Sieh nur, Melwin. Sieh nur.“ Melwin gab seinem Stern noch einen letzten Wischer mit dem Ärmel. Und dann, während der Stern noch strahlender und heller aufleuchtete, sah er hinab auf die kleine Stadt Bethlehem.
Autoren: Anette Bley, Nathan Zimelman